Bauen & Immobilien
Die News Mai 2022

Gebäude als Materialminen sehen

Weichen stellen für mehr Nachhaltigkeit

Rund 2,4 Milliarden zusätzliche Menschen benötigen bis 2050 ein menschenwürdiges Habitat. Dieses umfasst Wohngebäude, Arbeitsplätze, Freizeit- und Bildungsbauten und eine entsprechende Infrastruktur. Die baulichen Standards sind – meist in Relation zum Bruttoinlandsprodukt – global stark verschieden. Während ein Bürger einer Industrienation bis zu 500 Tonnen Material beansprucht, liegt der Durchschnitt in Entwicklungsländern bei knapp 150 Tonnen pro Person. In welches Umfeld diese zusätzlichen Menschen hineingeboren werden und wie sich bis dahin die Ansprüche entwickeln, spielt also eine sehr große Rolle.

Dr.-Ing. Stefanie Weidner
Lesezeit: ca. 4 Minuten
Pasi Toiviainen, Helsinki

Die Erde hat nur limitierte Kapazitäten, um für alle gleichermaßen ein bestimmtes Wachstum zu ermöglichen. Die „Grenzen des Wachstums“, wie der Club of Rome bereits 1972 so treffend prophezeite, sind sukzessive in vielen Lebensbereichen deutlicher zu spüren. Wir werden durch Extremwetterereignisse, ein massenhaftes Artensterben und das Ansteigen des Meeresspiegels an unsere Verwundbarkeit erinnert und sollten diese Anzeichen als Weckruf wahrnehmen, endlich mit alten Gewohnheiten zu brechen.

Nachhaltigkeit beginnt in der Phase 0

Umso wichtiger ist es, jetzt zu handeln und (Bau-)Projekte frühzeitig in eine zukunftsfähige Richtung zu lenken. Jedes Bauvorhaben beginnt mit einem Bedarf. Wir als Planende hinterfragen aber nur selten den Umfang unseres Planungsauftrags, da sich an diesem ja auch unser Honorar bemisst. Um auf ganzheitlicher Ebene nachhaltig zu planen, müssen wir aber genau das tun. Denn jeder nicht-gebaute Quadratmeter, jede Fläche, die geteilt werden kann oder eine Doppelfunktion mit Mehrfachnutzung hat, bedeutet eine wertvolle Einsparung natürlicher Ressourcen. Nachhaltigkeit beginnt in der Phase 0 eines Projekts.

Neben den Aspekten der Raumgrößen und Bauvolumina muss zwingend der Standort analysiert und auf seine Potenziale hin durchleuchtet werden. Mobilitätskonzepte sowie Umwelt- und Sozialstudien können die Eignung des Standorts für das Bauvorhaben begründbar machen und somit Faktoren wie Leerstand oder Nutzerunzufriedenheit vorbeugen. Dabei gilt: Eine langfristige und intensive Nutzung eines Gebäudes in Verbindung mit einer möglichen Umnutzbarkeit und Flexibilität ist einer der wichtigsten Aspekte eines nachhaltigen Bauwerks.

Wir müssen uns zudem von dem Gedanken lösen, dass wir für die Ewigkeit bauen. Unsere Gebäude sind bereits heute die Materialminen der Zukunft und müssen als genau solche geplant und ausgeführt werden. Aktuelle Abbruchbauten können bereits heute als Mine für Neubauten dienen und Primärrohstoffe ersetzen. Eine entsprechende Dokumentation und Digitalisierung des Planungsprozesses in allen Phasen sind dabei unerlässliche Parameter und sollten frühzeitig festgeschrieben werden.

Neutrale Beurteilung der ökologischen Sinnhaftigkeit

Eine weitere Untersuchung, die jedem Neubauvorhaben vorausgehen sollte: Gibt es eine bestehende Gebäudesubstanz, die für eine Weiterverwendung durch Transformation infrage kommt? Für eine neutrale Beurteilung der ökologischen Sinnhaftigkeit werden zwei Szenarien miteinander verglichen. Das erste Szenario besteht aus dem Erhalt des Bestands und einer Grundsanierung bzw. Aufbereitung oder Erweiterung der Substanz, sodass aktuelle Anforderungen an Raumgrößen, Deckenhöhen, Barrierefreiheit und bauphysikalische Aspekte erreicht werden können. Der Aufwand für qualitätssteigernde Maßnahmen, darunter nachträgliche Lichthöfe oder das Entfernen von einzelnen Geschossdecken muss hierbei natürlich ebenso berücksichtigt werden. In einem zweiten Szenario wird das Bestandsgebäude abgebrochen und durch einen Neubau ersetzt.

Zooey Braun

Ein Vorteil beider Szenarien besteht darin, dass ein Neubau auf Greenland, also der sprichwörtlichen grünen Wiese, vermieden wird. Bestehende Anschlüsse und Infrastrukturen können weitergenutzt werden. Denn auch das steht in der Verantwortung von uns als Planenden: den Anteil an überbauter oder generell versiegelter Fläche (wozu auch Straßenanlagen zählen) möglichst gering zu halten. Dies erreichen wir zum Beispiel durch Nachverdichtung, Ausreizung der zulässigen Gebäudehöhen und eine maximale Geschossflächeneffizienz.

Der Vergleich zwischen Szenario 1 und 2 wird zumindest im Falle eines Gebäudes in Massivbauweise hinsichtlich des anfallenden Ressourcen- und Treibhausgasaufwands unweigerlich für das erste Szenario entschieden. Je nach Gebäudetypologie verursachen die Tragstruktur, also Decken, Dach, Bodenplatte und die tragenden Wände 40 bis 70 Prozent der grauen Emissionen und massenmäßig sogar einen noch größeren Anteil der Ressourcenverbräuche. Unter ökologischen Aspekten ist es somit fast unmöglich, einen Neubau dem Bestandserhalt vorzuziehen. Eine Ausführung des Neubaus in Holz- oder Holzhybridbauweise kann dieses Verhältnis gegebenenfalls auch zugunsten von Szenario 2 verändern. Doch selbst bei nachwachsenden Rohstoffen gilt der Grundsatz der Suffizienz. Holz ist ein wertvoller Rohstoff, der auch verarbeitet und transportiert werden muss – und der nur in sehr begrenztem Umfang zur Verfügung steht. Sofern existierende Bausubstanz vorhanden ist, die technisch sinnvoll wiederverwendet werden kann, sollte das selbst einem Holzneubau vorgezogen werden. Natürlich kann nicht zwingend jede Bausubstanz wiederverwendet werden; dies muss aber in Leistungsphase 0 abgeklärt werden.

Nutzerverhalten wird nicht berücksichtigt

Der Energieverbrauch von Gebäuden ist vor allem nach dem KfW-Förderungstumult zu Beginn des Jahres wieder ein großes Thema. Sowohl für Bestandssanierungen als auch für Neubauten gilt es, in Phase 0 die richtigen Weichen zu stellen. Die Werte, die rechnerisch erreicht werden, berücksichtigen leider nicht die Komponente „Nutzer“, sodass in der Praxis beim Endenergieverbrauch zum Beispiel im Wohnungsbau häufig keine maßgeblichen Unterschiede zwischen EH 55 und EH 40 zu verzeichnen sind. Den Aufwendungen für Gebäudetechnik, zusätzliche Dämmmaßnahmen und einer schlechteren Geschossflächeneffizienz steht damit schlimmstenfalls keine Reduktion des Energieverbrauchs gegenüber.

Umfassender Weitblick erforderlich

Viele Entscheidungen, die während der Projektierung getroffen werden, bedürfen eines umfassenden Weitblicks über die Aspekte der Nachhaltigkeit in all ihren Facetten. Als Planende müssen wir genau diesen frühen und weichen Projektzeitpunkt dafür nutzen, die Bauvorhaben mit den Bauherren zu formen, Ziele zu formulieren, die für die nächsten Leistungsphasen als Orientierung dienen. Manche Städte oder kommunale Einrichtungen, etwa die Hafen City Hamburg, spüren die Notwendigkeit, die Anforderungen an Bauherren nachzuschärfen, und fordern inzwischen vertraglich bindende Zusagen zu Nachhaltigkeitsthemen wie Ressourcenverbrauch oder eine Reduktion der grauen Emissionen. Gerade hier können Planer durch eine frühzeitige Einbindung wichtige Impulse geben und dazu beitragen, das Projekt frühzeitig ökologisch und ökonomisch nachhaltig aufzustellen.

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