Gefangen im Kopfkino
Führungskräfte haben im Vergleich zu Mitarbeitenden ein ähnlich hohes Risiko, psychisch zu erkranken. Vor allem Workaholics sind gefährdet. Die Redaktion sprach mit Dr. Christian Graz, Chefarzt der Psychosomatik der Max-Grundig-Klinik, über Arbeitssucht und Burnout bei Führungskräften.

Die Max-Grundig-Klinik in Bühl.
Herr Dr. Graz, was versteht man konkret unter einer Arbeitssucht?
Ein Mensch, der unter Symptomen einer Arbeitssucht leidet, ist auf der Suche, sein psychisches und soziales Wohlbefinden durch außerordentliche berufliche Leistungen zu erreichen. Dabei sind Workaholics ständig vom Sollen und Müssen getrieben. Sie sind zwanghaft eingeengt auf arbeitsplatzbezogene Kontexte und besitzen sehr perfektionistische Grundhaltungen. Auch in der Freizeit können sie nicht richtig entspannen oder die Aufmerksamkeit auf andere Lebensinhalte lenken. Das Kopfkino kreist ausschließlich darum, im Job erfolgreich zu sein. Deshalb meiden Arbeitssüchtige eher zwischenmenschliche Kontakte, weil sie bei Nichtbeschäftigung unter einer quälenden Unruhe mit aufkommenden Schuld- und Insuffizienzgefühlen leiden.
Was ist der Unterschied zwischen Menschen, die in Richtung Burnout tendieren und Workaholics, wie Sie sie gerade beschrieben haben?
Der Burnout-Begriff wurde Anfang der 70er-Jahre von dem New Yorker Arzt Herbert Freudenberger eingeführt und beschreibt ursprünglich einen Zustand überengagierter Beschäftigter, die sich in der Folge einer Überarbeitung müde, ausgelaugt, überfordert, lustlos und durch körperliche Beschwerden „wie ausgebrannt“ fühlen. Die sehr unterschiedlichen Burnout-Beschwerden werden wissenschaftlich in die drei Dimensionen – emotionale Erschöpfung, Zynismus und verringerte Arbeitsleistung – untergliedert. Die beiden Phänomene Arbeitssucht und Burnout hängen eng zusammen. Wer ein suchtähnliches Arbeitsverhalten aufweist, besitzt ein erhöhtes Risiko zur Entwicklung des Risikozustandes Burnout.

Welche Rahmenbedingungen bei der Arbeit begünstigen deren Entstehung?
Unsere gesamte auf individuelle Performance ausgerichtete Unternehmenswelt bildet grundsätzlich einen fruchtbaren Nährboden für beide gesundheitlichen Risikozustände. Dabei stellt das vermehrte Arbeiten im Homeoffice, das durch die Pandemie begünstigt wurde, häufig eine Überforderung mit vegetativen Stresssymptomen dar. Wenn die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben gänzlich verschwimmen, ist es für den Einzelnen noch gefährlicher, in Richtung Arbeitssucht und Burnout abzudriften.
Wie lässt sich die Gefahr durch das Homeoffice frühzeitig bannen?
Um erfolgreich Arbeits- und Privatleben zu trennen, ist ein gutes Zeit- und Selbstmanagement gefragt. Die jobbedingte Arbeitsbelastung, vielfältige Stressoren im Privathaushalt und die individuelle Belastbarkeit und Widerstandsfähigkeit sollten klug ausbalanciert werden, um langfristig fit zu bleiben. Hierzu gehören ebenso regelmäßige Bewegungseinheiten, das bewusste Einhalten kleinerer Pausen und Maßnahmen zur aktiven Entspannung. Wenn alle diese Strategien scheitern und alltagsrelevante psychische oder somatische Erkrankungen im Zusammenhang mit Homeoffice auftreten, sollten die Betroffenen die Notwendigkeit einer Therapie abklären.
„Arbeitssüchtige meiden eher zwischenmenschliche Kontakte, weil sie bei Nichtbeschäftigung unter einer quälenden Unruhe mit aufkommenden Schuld- und Insuffizienzgefühlen leiden.“
Warum sind gerade Führungskräfte in besonderem Maße für Arbeitssucht empfänglich?
Geschätzt 300.000 bis 500.000 Menschen leiden in Deutschland unter Arbeitssucht; ein Vielfaches hiervon unter Symptomen eines Burnouts. Zu den häufigsten Risikogruppen gehören dabei Unternehmerinnen und Unternehmer sowie Managerinnen und Manager. Wir sehen das täglich in der Max-Grundig-Klinik. Es gibt dafür eine ganze Reihe von Gründen. Erfolgreiche Personen in der Wirtschaft sind von ihrer Persönlichkeitsstruktur grundsätzlich wettbewerbsorientierter und ehrgeiziger als der Durchschnittsmitarbeiter. Sie sind von einer Einstellung des „Schneller, Höher, Weiter“ geprägt. Ihr Antrieb für außerordentliche berufliche und gesellschaftliche Leistungen liegt nicht selten in der Suche nach Erfolg, Geld, Macht und Anerkennung. Wenn diese Prädisposition mit einem fragilen Selbstwert und tief verwurzelten Versagensängsten zusammentrifft, kann es bei subjektivem Kränkungserleben oder Misserfolg zu psychosomatischen Störungen kommen. Objektiv kommt hinzu, dass Führungskräfte ein hohes Maß an Verantwortung tragen. Auch das kann zu einer Bürde werden, wenn krisenhafte Situation in Unternehmen eintreten. Im Extremfall kann es dann zum Tod durch Überarbeitung kommen. In Japan gibt es dafür ein eigenes Wort: Karoshi.
Welche Folgen hat eine Arbeitssucht auf Körper und Seele? Auf welche Warnzeichen sollte man achten?
Wenn die Arbeitsbesessenheit noch nicht weit fortgeschritten ist, hilft die Selbstbeobachtung. Bin ich hyperaktiv, wann war mein letztes freies Wochenende, arbeite ich mehr als Kollegen und vertraglich vereinbart, denke ich, Mittagspausen sind etwas für Schwächlinge, rede ich privat nur über den Job, bin ich unfähig zur Delegation? Auch die Frage, „Erfuhr ich als Kind nur emotionale und körperliche Zuneigung bei schulischen Topleistungen?“, kann von Relevanz sein. Bei der Erkennung von potenziellem Burnout kann die Selbstbeurteilungsskala „Maslach-Burnout-Inventar“ mit der Beantwortung von 22 Fragen zum Arbeitsverhalten helfen. Wer Warnsignale übersieht, bekommt von Körper und Seele mittel- und langfristig deutliche Rückmeldungen: schlechte Schlafqualität, Angstzustände, Depressionen, Sorgenkarussell und suizidale Gedanken, Kopfschmerzen, Magenprobleme, Bluthochdruck bis hin zu lebensbedrohlichen Krankheitssymptomen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall.
Welche Therapieansätze sind hier vielversprechend beziehungsweise was raten Sie Betroffenen, um einer Entgrenzung entgegenzuwirken?
Ein Problem ist, dass sich Workaholics meist erst dann in psychosomatisch-psychotherapeutische Behandlung begeben, wenn sie eine manifeste, alltagsrelevante Angsterkrankung oder eine depressive Störung entwickelt haben. Die Therapie ist dann komplex. Wir beginnen häufig mit einer Art Aufklärungsarbeit über arbeitsplatzbezogene Störungen. Meist folgt eine Mikroanalyse von Arbeitgeber und Arbeitnehmer, um die Situation – etwa die hohe zeitliche Taktung, Verdichtung von Aufgaben, ständiges Multitasking – zu verstehen und dabei individuelle Überzeugungen, Gefühle und Werte aufzudecken.
Welches Ziel verfolgen Sie dabei?
Es geht darum, die sogenannte Introspektionsfähigkeit zu erhöhen, das Selbstwertgefühl außerhalb des Jobs zu stabilisieren, überzogene Leistungskognitionen kritisch zu hinterfragen, aber auch, sich ein ehrliches Feedback von Kollegen einzuholen: Nicht selten wirken Arbeitssüchtige ja wie eine Karikatur und werden von ihrem Umfeld belächelt. Der Weg zur Veränderung ist dabei kein leichter.